Kriegschronik von Oberndorf Teil XV.

Berichte aus Briefen der Kämpfer VI.

Von dem Lehrer der hiesigen protestantischen Schule, Ebersold, der beim Beginn des Krieges als Vizefeldwebel zum 8. bayerischen Reserveregiment, 1. Kompanie, einrückte, gelangten Nachrichten hierher, aus denen das Folgende mitgeteilt wird:

8. September 1914. Die besten Grüße aus dem Schützengraben am Waldesrand, wo ich inmitten meines Zuges liege. Sie wissen gar nicht, wie unendlich wohl dem rauhen Krieger bei seiner Blutarbeit heimatliche Klänge tun. Darum besten Dank für Ihre und meiner Schüler Grüße. Es ist dies für uns ein erhebendes Gefühl, uns von denen zu Hause umsorgt zu wissen und der Eifer und die Begeisterung, mit der in der Heimat die Arbeiten für uns besorgt werden, macht uns die Erfüllung unserer harten Pflicht leicht. Eine harte Pflicht ist und bleibt es. Nicht frischfröhliche Feldpflichten sind es, die gewaltige Lücken reißen. Metz – Mörchingen war im Verhältnis zu unseren jetzigen Kämpfen ein fröhlicher Wandertag. Er kostete uns 2 Tote und 5 Verwundete. Der Ansturm westlich Luneville aber vom 26. August nahm uns 39 Verwundete und 2 Tote, die Vermißten gar nicht gerechnet. Tag für Tag sind wir im Granatfeuer der schweren französischen Festungsartillerie, gegen die die unserige bis jetzt verhältnismäßig wenig ausrichten konnte. Nun, wir haben ja den Gegner auch blos in der Front zu beschäftigen, bis er von hinten auch gefasst werden kann. Hoffentlich ist uns dann einmal wieder eine Feldschlacht beschieden! Bei jeder Arbeit für die Verwundeten und Kämpfenden sollen nur meine Schüler mithelfen. Jetzt darf ihnen nichts, aber auch gar nichts zu viel sein.
Nach den Kämpfen bei Mörchingen und westlich Luneville kam das Regiment zunächst bei Metz in Ruhestellung. Von dort schreibt am 18. September Ebersold: Schleunigst soll diese Karte den Dank aus unserem Rastort östlich Metz für die süße Fürsorge (Schokolade) ins stille Alsenztal tragen. Durch den steten Verkehr mit der Heimat bleibt man immer bodenständig und im Gegensatz zu dem Söldner, der irgendwo in der Luft hängt, weiß man: Es geht für König und Vaterland, für die Heimat, die unser Nährboden ist und die uns Kraft und Begeisterung zu neuen Kämpfen, zu neuem Aushalten nach der Ruhe gibt. Morgen wird es wahrscheinlich nach unbekannten Orten weitergehen und 8 Tage wird es mit der Besorgung der Post windig bestellt sein. Vom Festungsbereich im östlichen Frankreich wurden wir am 11. September abgelöst, wie das ganze II. bayerische Armeekorps. Hier haben wir das herrlichste Leben und da eben unsere Post aus der Heimat haufenweise ankommt, fühlen wir uns verhältnismäßig mollig.
Carnoi, 8. Oktober 1914
Gestern abend erhielten wir auf der Höhe etwas rückwärts von hier die Post und wurden dabei durch französische Granaten, die nicht weit davon das Schlachtfeld nach lebenden deutschen Kriegern absuchten, recht unliebsam gestört und konnten deshalb nicht alles erhalten, sondern mußten noch vieles im Postsack beieinander lassen. Immerhin bekam ich soviel, daß mir es immer wärmer wird bei den vielen immer wiederkehrenden Beweisen davon, daß die Unseren zu Hause mit ihren Sorgen, Wünschen und ihrem Hoffen bei mir sind und den Krieg mitfühlen, soviel es möglich ist.
So merkten wir wohl, daß hinter unseren Linien noch eine große Schar guter Geister liebreiche Hilfe leistete. Dank allen, die geben, mithelfen, mitsorgen, mithoffen, mitbeten. Wir sitzen in schlechtangelegten, engen Schützenlöchern, ohne eigentlich die Möglichkeit zu besitzen, auch gleich eine vernünftige Schützenlinie zu bilden. Wir können nicht beobachten, dürfen nicht raus, wissen nicht, ob der Gegner herankommt oder nicht. So sind wir hier die Ungewissheit in Person und liegen zu einem, zu zweien und dreien in einzelnen Löchern und rufen uns leise gegenseitig zu. Das ist alles, was wir voneinander wissen. Heute abend sollen wir abgelöst werden und zurück in Ortsunterkunft kommen. Im Festungskrieg wird nämlich alle drei Tage abgelöst und hier haben wir gegenwärtig soviel als möglich Feldstellungen gebaut.
Ginchy, 11. Oktober 1914
Hier in Nordfrankreich sind wir beim zunächst noch sichernden Gefecht in befestigten Feldstellungen bei Amiens, immer 2 Tage in vorderster Linie im Schützengraben, 2 weitere als Unterstützung etwas weiter dahinter im Durchgangsgraben und endlich 2 Tage etwas weiter rückwärts zur Ruhe, die wir gestern und heute genossen haben und bis zum Eintritt der Dunkelheit heute Abend noch genießen. So erleben wir dann heute den ersten Sonntag während des Feldzuges in richtiger Stille. Man hat wirklich das Bedürfnis nach solchen Punkten innerer Sammlung und Rückschau. Dann geht es wieder mit neuer Kraft und neuem Mute an reiche Arbeit.
Ginchy, 17. Oktober 1914
Nun wird sich der Krieg doch wohl noch etwas mehr in die Länge ziehen, als unser Kaiser meinte (bis Herbst). Die 100 000 Mann, die zu Schiff aus Antwerpen ausflitzten und nun irgendwo auftreten, kosten uns wohl 4 weitere Wochen zum allermindesten. Auch dadurch, daß Verdun immer noch nicht gefallen ist, wird der Kampf etwas langwierig. Erst dachte ich, wir kämen ohne Winterkleidung aus. Diese Hoffnung habe ich jetzt begraben.
22. Oktober
Sehen Sie, so wissen wir uns im Felde zu helfen. Da ich keine Feldpostkarte mehr habe und mein Unwohlsein mir nicht Zeit zu einem längeren Briefe lässt, so müssen die beiden Pappdeckel, die zum Einpacken der zwei Schokoladetafeln verwendet waren, den Dank für die liebevolle Sorge in die Heimat tragen.
Lille – Gestern wollte ich kräftig Briefe schreiben, mindestens 5: Aber ich mußte aus einer Vorstadt von Lille hinein nach Lille, eine Brille kaufen, weil die meine in Kaiserslautern zur Ausbesserung sich befindet und über meinen Zwicker das II. bayerische Armeekorps hinwegmarschiert ist.
Lille – Militärlazarett Saal 4, 6. November 1914.
Westwärts „Comines“ gings wieder ins Gefecht mit Engländern, Indiern und Franzmännern. Die Indier scheinen sich in den letzten Tagen verzogen zu haben. Die Engländer halten aber wider Erwarten noch feste Stand. Es geht eben mit Hochdruck an die Arbeit, stehts Sturm, Gefecht u.s.w. Langsam kommen wir zwar immer vorwärts, wenn auch unter großen, sehr großen Opfern. Dabei wurde ich zur Abwechslung gar, als sich am 3. November nachmittags unser Leutnant krank meldete, Kompanieführer. Wir standen östlich Hollebeke unter der 7. Infanteriebrigade und gehörten zu einem zusammengestoppelten Batallion  von 3 Kompanien, dessen Führer Leutnant Mannweiler aus Kalkofen (später gefallen) war. Bald aber kam der Abmarschbefehl: Das kombinierte Batallion marschiert auf Ostereete zur Verfügung der Gruppe Mark. Als wir gegen Abend diesen Befehl ausführten, traf uns unterwegs ein anderer Befehl der Division, der besagte, daß nur die beiden Kompanien des 5. Regiments gegen Ostereete vorrücken, die 1. Kompanie des 8. Reserveinfanterieregiments aber sich in Hollebeke der Brigade zur Verfügung zu stellen habe. Diese Streiter befanden sich in Schützengräben am Rande des Parkes, der zu dem Schlosse westlich Hollebeke gehört. 2 Züge schanzten sich als Unterstützung ein und den dritten brachte ich in dem Keller eines Gartenhauses in der Nähe des Parkrandes unter. Wieder waren wir wie so oft anderswo nötiger und so telefonierte die Division, daß wir früh 4. November nach Ostaveete zu marschieren und uns unserem Batallion zur Verfügung zu stellen hätten. Vorm Abmarsch zerschlug ein Jäger in dem Gartenhaus einen Kasten, die Franzmänner wurden aufmerksam, salzten mit Schrapnells tüchtig herüber und da gerade ein solches Biest über mir platzte, als ich zum Kellerloch hinein den Abmarschbefehl wiederholt hineinrief, so bekam ich 5 von den vielen in einem solchen nicht süßen Zuckerhut befindlichen Kugeln ab. Doch konnten sie nicht eindringen, da das Geschoß zu hoch geplatzt war und die Kugeln ihre größte Kraft eingebüßt hatten. So habe ich dann nur leichte Prellungen am linken Arm und an der linken hinteren Halsseite davongetragen, die so schnell behoben sein werden, daß ich, wenn dieser Brief in Ihre Hände gelangt, wahrscheinlich schon wieder bei der Truppe bin.
Brombach bei Lörrach – Baden, 15. November 1914.
Erst Feldlazarett Comines, kein Platz, dann Kriegslazarett Lille, ebenfalls kein Platz, jetzt Reservelazarett Brombach. Da rät mir der Arzt noch etwas länger zur Heilung und Erholung zu bleiben und jetzt will ich nicht. Morgen gehts zum Ersatzbatallion in Zweibrücken. Vielleicht bekomme ich dort einige Tage Urlaub in die Heimat, damit ich einmal wieder die Plätze sehe, um die ich mich geschlagen habe und in höchstens 14 Tagen wieder schlagen werde.
Auf der Fahrt nach Flandern teilte Ebersold seine kriegsmäßige Trauung mit einer Tochter der hiesigen Gemeinde mit, diesselbe fand in Zweibrücken statt, unmittelbar vor Abgang der Jäger, der ihn wieder ins Feld und zwar nach Comines in Nordfrankreich brachte.
Comines, 23. Dezember 1914.
Heute Abend, eigentlich also vorhin, hatten wir in der großen Halle der Weberei, wo die Webstühle sich befinden, in dem breiten Gange in der Mitte unsere Weihnachtsfeier für das Batallion. Dabei wurde gar mancher mit dem Eisernen Kreuz bedacht, darunter auch ich. Doch bitte ich, von jeglicher Veröffentlichung dieser Auszeichnung Abstand zu nehmen.
An Weihnachten Frieden? Ich weiß nichts davon, glaube auch nicht daran, so sehr ich es auch hoffe. Die letzten 3 Tage im Schützengraben und dann die 3 darauf gefolgten im Deckungsgraben sahen garnicht danach aus. Und wir rücken morgen Abend, just am heiligen Abend auf 2 Tage in den Schützengraben, um dort Weihnachten zu feiern.
Comines, 8. Januar 1915.
Gestern Morgen, also an Königs Geburtstag, hatten wir auf dem Platze vor dem hiesigen Rathause Parade, die in gruppenweisem Vorbeimarsch an unserem Kronprinzen Rupprecht bestand. Am Nachmittage leerten wir dann bei der Kompanie eine Flasche Münchner und vervollständigten den herrlichen Genuß dadurch, daß wir vom Marketenderwagen Knackwürstchen erstanden, die als warmes Würstchen das Getränk von der Isar in herzinnig willkommenen Festzug in den Magen begleiteten. Dort war eitel Freude über diese recht deutsche Mahlzeit in Feindesland. Am Abend zuvor hatte auf dem selben Platze, wo die Parade gewesen, eine Serenade stattgefunden. Von den Ansprachen hatten wir natürlich herzlich wenig, da wir sie nur bruchstückweise hören konnten. Dafür war das Spiel der vereinigten Regimentsmusiken für uns ein ganz herrlicher wie seltener Genuß. Diese innigen deutschen Weisen in einem Augenblicke der Ruhe und Sammlung in solch hervorragender Wiedergabe sind eine Erquickung der Gemüter, daß man sich nach solch rauhen Tagen wieder einmal als Mensch fühlen kann – Augenblick! Nach Feldhühnchennudelsuppe gehts weiter – Fein war sie und großartig hat sie geschmeckt, die Nudelsuppe nämlich und gleich kommt das von meinen Hausleuten, bei denen ich hier für die Tage der Ruhe in Einzelunterkunft untergebracht bin, zubereitete Mittagsmahl. Also die Semmel. Das markige „die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ und das vertrauensvolle „Wir treten zum Leben vor Gott den Gerechten“, jedes eine erhebende Andacht und selbst der Präsentiermarsch erschien mir als eine Herzenserfrischung. Ich will noch schnell der Strickgesellschaft (Schulkinder) einen Feldgruß schreiben und derweil wirds so allgemach Zeit, sich für den so nassen Schützengraben bereit zu machen.
Liebe Strickgesellschaft! Ich weiß es wohl, ihr seid ihn leidig, den gar so langen Krieg, bei dessen Anfang manche glaubten, das in drei Wochen, höchstens aber 3 Monaten sein Ende unbedingt da sein müßte. Woher sollten sonst für den Krieg der Neuzeit die vielen Menschen und das viele Geld kommen? Und nun sind über 5 volle Monate blutigen Ringens vorüber und noch immer ist kein Ende abzusehen. Immer neue Massen wälzen sich einander entgegen. Selbst Weihnachten mit seiner liebevollen Engelsbotschaft brachte ihn nicht, den allseits erwarteten Fieden, auf den Ihr zuhause innig hofftet und hofft und nach dem ein tiefes Sehnen durch die Reihen der Krieger geht. Und so gehen wir hinein in das neue Jahr mit dem alten Streit, mit der alten Blutarbeit. Möge sie recht bald ein Ende mit schönem Erfolg finden. Weil Ihr aber an Weihnachten mit lieben Gaben unser Gedacht, so will ich Euch von unserer Weihnachtsfeier hier in Comines erzählen. Wie es bei Euch war, Ihr wisst es, nicht wie sonst. Bei uns? Nun hört zu: Da wir gerade am heilgen Abend zur Wache gegen die Franzosen auf 3 Tage in den nassen, schmierigen Schützengraben zu rücken hatten, so wurde unsere Weihnachtsfeier im I. Batallion auf den Abend des 23. Dezember vorverlegt und die vier Kompanien versammelten sich in dem breiten Gange zwischen den Webstühlen der Maschinenhalle der Weberei Derville zu Comines, um einen geschmückten Tannenbaum, der in der Mitte auf einem Tische stand. Der Ständer war recht kriegsmäßig aus Hufeisen zusammengeschmiedet. Eine Sängerschar übte einige Lieder, bis die hohen Vorgesetzten kamen. Als die erschienen wurden sie mit „Stillgestanden“ empfangen. Nach dem „rührt euch“ trugen die Sänger ein Weihnachtslied „Oh du fröhliche“ vor und diesem folgten Ansprachen des protestantischen und katholischen Feldgeistlichen, sowie unseres Batallionskommandeurs. Daraufhin kam das Altniederländische Volkslied „Wir treten zum Beten“ an die Reihe und jetzt verteilte der kommandierende General nach entsprechenden Worten an die vorher an die Front gerufenen für tapferes Verhalten vor dem Feinde Eiserne Kreuze und beglückwünschte sie dazu. Nach dem Lied „Stille Nacht“ und der Wacht am Rhein nahm er Abschied und der Brigadegeneral richtete noch einige Worte an uns, die in der Mahnung gipfelten, auch unter den schwierigen Verhältnissen wie bisher aus- und durchzuhalten. Damit war die eigentliche Feier vorbei und die Kompanien konnten in ihre Unterkunftsräume gehen, vor die Berge von Weihnachtsplätzchen und -päckchen aus der lieben Heimat verteilt wurden. Nun aber schnell Schluß, es geht wieder in den Schützengraben. Herzliche Grüße von Eurem Friedrich Ebersold.
Antring, 21 März 1915.
In der Nacht vom 7. auf 8. März wurden wir aus der Front westwärts Comines herausgezogen und durch die 18er abgelöst. Wir kamen dann noch 2 Tage in Unterkunft nach Frercoung und marschierten dann am 10. des Monats hierher in ein liebliches kleines belgisches Städtchen. Seitdem genießen wir eine wohltuende Waffenruhe. Nicht einmal schießen hören wir es hier. Nur wenn wir auf die Höhen bei den beidenSchlössern gehen, hallt dumpfer Kanonendonner von Ypern und Arras herüber. Da wirds einem schwül und man steigt schnell wieder hinunter in den Bereich friedlicher Töne. Meine Nerven sind auch nicht mehr so wie am Anfang des Feldzuges. Am 27. Februar schlug sogar eine 7,5 cm Granate im Schützengraben vor Wytschaete in meinen Unterstand und platzte, während ich alleine darin lag. Außer einigen Ritzerchen auf der Außenseite der rechten Handfläche blieb ich völlig unverletzt und konnte nach wie vor meinen Dienst versehen. Mit verschiedenen anderen Regimentern bilden wir nun eine neue, die 10. bayerische Infanteriedivision, nachdem wir am 4. März aus unserem alten Verband, dem II. bayerischen Armeekorps ausgeschieden sind. Für immer werden wir ja nicht hierbleiben, wann und wohin es aber losgeht, kann ich freilich nicht sagen.
Lindau, Villa Regina, 19. April 1915.
Eben kam ich von dem zweistündigen Dienst der Schützengrabenaufsicht zurück. Die Ortsangabe bezeichnet den Schützengrabenabschnitt unserer Kompanie. Dieser Name kommt von unseren Vorgängern, den 20ern, die wir in der Nacht vom 31.3. auf 1.4. ablösten und die den Namen ihrer Garnisonsstadt auf ihren Kompaniebereich übertrugen. Der Laufgraben, der in unser Lindau hineinführt, ist der „Lindauer Weg“. Aber auch jeder Unterstand ist eigens benannt. So hause ich in Villa Regina. Die verschiedensten Villen sind hier. Auch eine „U 9“, eine „Emden“, ein „blutiger Knochen“ (mit den Kammstücken) und eine „Zollgrenze“ am linken Ende des Abschnitts. Der „Eiffelturm“ ist der erhöhte Artilleriebeobachterstand auf der großen Straße St. Quentin – Amiens, die schnurgerade beide Städte verbindet. Wir liegen genau in der Mitte zwischen diesen beiden Städten, zwischen unserer Ortsunterkunft Estree und Foucancourt, das schon in französischen Händen ist. So ist unser Lindau eine unterirdische Stadt in Frankreich. Der Schützengraben und die Laufgräben sind die Straßen und die Unterstände die Häuser, die je ein Zimmer aufweisen, das ist aber auch ein wirkliches, richtiges Zimmer. Nach und nach wird es immer wohnlicher hier drin. Schon das ich Sie mit Tinte und Feder aus dem Unterstand grüßen kann, wird Ihnen den gewaltigen Unterschied zwischen Wytschaete und hier etwas vor Augen führen. Hier sind Besuche, wie der am 27. Februar einfach unmöglich. Eine 7,5 cm Granate schlägt solch starke Eindeckungen nicht durch. Da müßten schon 15er kommen oder der schmale Laufgraben müßte so ein gefährliches Osterei aufhalten. Dann könnten aber höchstens nur Splitter hereinkommen. Von der Granate am 27. Februar hätte ich sehr gern vollständig geschwiegen. Aber da in dem Unterstand gegenüber ein mannweilerer Kind lag, als sie den meinigen zusammenhaute, so wußte ich ja schon, daß die Kunde doch nach Hause komme. Wie aber solche Nachrichten zum Schlusse aussehen, das merkt man an den Mordgeschichten, die gestern Abend von unserem Abschnitt erzählt wurden: 14 Tote hat die Kompanie, die mit als erste ablöst. In Wirklichkeit aber hatte sie nur einen einzigen Verwundeten und jener schon gleich an dem Abend, als wir zum letzten Male in Ortsunterkunft zurückgingen. Solche Ungeheuerlichkeiten, die meistens von den Mutigen hinter der Front, bei der Feldküche oder sonst woher kommen, schlägt man am besten mit der Wahrheit tot.
Estrie, 27. Mai.
Etwas Gutes hat das Durcheinander bei Arras doch gehabt: Das verfluchte, blödsinnige Exerzieren hört wenigstens auf und an seine Stelle tritt kräftige kriegsmäßige Arbeit. Wir bauen nämlich unsere Stellungen sehr stark aus. Als wir kamen, hatten wir nur einen einzigen Schützengraben mit den in diesen hineinführenden Laufgräben. Jetzt sind bald 5 Linien vollständig fertig, manche mit sehr starken Drahthindernissen. Tagtäglich wird daran gearbeitet und zwar nicht nur von uns, den „ruhenden“ Truppen, sondern auch von unserer Sanitätskompanie, die in dieser Stellung erfreulicherweise sehr wenig zu tun hat in ihrem Berufe, und eingekleidetem ungedientem Landsturm. Diese Brüder bilden natürlich einen ganz herzzereißenden militärischen Verein und es kann uns kein Mensch verdenken, daß wir den Ortsbewohnern beizubringen versuchen, es seien gefangene Russen. Jetzt darfs auch einmal ein bisschen krumm gehen. Dann wird der Schaden doch nicht gar so schlimm. Wenn die Verhältnisse links oder rechts einmal ein Zurückgehen unvermeidlich machen sollten, dann kann man sich doch gleich wieder festsetzen und Widerstand leisten und ist doch nicht einfach dem gegnerischen Eisenhagel preisgegeben, ohne sich verteidigen zu können. Sie dürfen nun aber  nicht glauben, daß wir an ein Zurückgehen denken, ohne daß es unbedingt nötig wäre. O nein! Im Gegenteil! Vor einigen Tagen bestellte ich bei unserem Versorgungsoffizier dünne Leinwand, um die eine Wand und die Decke meines Unterstandes damit auszuschlagen. Die Tapeten, die ich irgendwo aufgetrieben habe, langten blos für drei Wände. Für die vierte erwischte ich nun einmal nichts mehr. Es will sich rein garnichts finden, höchstens Kalk. Etwas Ölfarbe bin ich auf der Spur. Die wird aber zu gut bewacht. Wenn sie einmal niet- und nagellos sein sollte, dann ist sie mir natürlich lieber als die Leinwand. Einmal an Wand und Decke gestrichen, kann sie mir ruhig beschlagnahmt werden. Auf einen Käufer mehr oder weniger kommt es ja hinten am Ende auch nicht an. Dafür wohnt man auch wieder angenehmer. Wir dürfen uns ja wohl schon recht Dauerhaft einrichten, denn so schnell wird der Rummel noch nicht zu Ende sein, besonders jetzt, wo die Schufte jenseits der Alpen ihr Land unbedingt an Deutschland angliedern wollen. Das geht natürlich nicht so schnell. Erst müssen die Russen aus Galizien hinaus. Dann dürfen sie die Ostseeprovinzen räumen und sich ein paar mal „umgruppieren“, bis ihnen der Schnaufer ausgeht. Nachher gehts nach Calais. Die Kranken und Erholungsbedürftigen kommen jeweils nach dem Süden. Oberitalien ist ja wie geschaffen dafür. Auf jeden Fall hat sich der hinterhältige Vertragsbrecher schwer verrechnet. Es dauert freilich jetzt etwas länger, dieses Ringen um unser Sein. Aber am Ausgange kann auch dieser Zuwachs im Schufteverband unserer Gegner nichts ändern. Das schönste wäre ja, wenn schließlich Italia dem Schachspieler Grey nicht mehr nützte als Portugal.
Als der gute Anfang am Dunajec einsetzte, hofften wir in einem Vierteljahr mit unseren Gegnern fertig und in einem Halben zuhause zu sein. Jetzt geht es natürlich so schnell nicht, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse eintreten. Vielleicht kümmern sich an einem schönen Tage Vesuv und Ätna ob solch herrlicher Bundestreue um die, die in ihrer Umgebung wohnen, die Hauptsache aber werden wir schon selber schaffen. Dem bisherigen innigsten deutschen Wunsche „Gott strafe England“ tritt nun ein weiterer zur Seite: „Der Teufel hole Italien“.
19. September. Inzwischen war Ebersold zuhause.
Mit dem Wiedereingewöhnen ist es diesmal so eine ganz eigene Sache. Wie Blei liegt es mir in den Glieder und der Dienst ruft mich zurück. Dabei ist es mir aber körperlich ganz wohl. Innerlich aber bin ich mit der herben Kunde aus dem Osten (sein Bruder war dort gefallen), die mir bei meiner Rückkehr aus dem Urlaub auf dem Fuße folgte, immer noch nicht fertig geworden.
1. Oktober: Er erhielt zum Eisernen Kreuz das bayerische Verdienstkreuz II. Klasse.
Nürnberg, 14. November (Unterstand).
Eben geniesen wir hier das selbe Wetter wie im vergangenen Winter vor Wytschaete. Freilich kommt es uns in dieser Stellung nur halb soviel zugute, denn voriges Jahr kam zu dem Guten von oben, dem Regenwasser, in dem Grundwasser Flanderns nicht weniger Gutes von unten. Hier aber fehlt es erfreulicherweise an Feuchtigkeit aus der Tiefe, so daß man genügend weit in die Erde dringen kann, um eine vernünftige Deckung zu haben. So gedenken wir hier in Unterkunft und Stellung bedeutend weniger unbehagliche Winterquartiere zu bewohnen als vor Jahresfrist. Vor dem Winterschluß wirds aber wohl noch eine Mordsschießerei im Westen geben, als Kundgebung, die zur Entlastung im Orient führen soll, angreifen werden sie aber keinen.
Misery (Ortsunterkunft) 26. November
Recht erfreuliche und auch ernste Nachrichten zum anderen Teil waren es, die Sie mir in Ihrem letzten Brief zugehen ließen. Krankheit in der Schule und im Dorfe sind in so allgemeinem Auftreten eine harte Nuß für eine Gemeinde. Hoffentlich geht der Lehrmangel schnell vorüber. Besonders wünsche ich das meiner kleinen Schar. Auch bei uns sieht sichs hie und da in der Stellung etwas windig an und doch kommen wir zuallermeist  ohne Verluste wieder heraus. Manchmal meint man schon die Franzmänner suchten die Plätze für ihre Granaten aus an denen keine unserer Leute stehen. So ist es hier, wenn man genau zusieht, nur halb so schlimm.
Recht erfreulich ist die Regelung des Organistengehaltes, besonders erfreulich aber die Einstimmigkeit des Beschlusses. So läßt der Krieg in friedlicher Arbeit manches Ziel auf gute Art erreichen, was der Friede einem kriegerischen hin und her nicht bescherte. Möchte der Krieg, wie hier im Kleinen, so auch im Großen gar manche hohe Friedenserwartung im großen deutschen Vaterlande erfüllen. Die Rückkehr in Heimat und Friede wird so schnell nicht erfolgen. So schnell und leicht ergeben sich unsere Gegner nicht. Und jetzt sind wir bald soweit, daß wir befreundete Völker des Ostens ausrüsten und durch unsere Offiziere den englischen Träumen an die Kehle führen können. Ein baldiger Kaiserbesuch in Konstantinopel wird dafür ein herrlich Signal sein. Ach Gallipoli! Lebt wohl Dardanellen! Jetzt heißt es Ägypten und was drum und dran hängt. Das läßt sich natürlich nicht im Handumdrehen erreichen und so heißt es für uns im Westen wieder still und wachsam aus- und durchzuhalten. Eine kleine Ausspannung und eine ganz winzige durch Urlaub. Der kommt aber bei mir noch nicht so schnell wieder.

Das war der letzte Brief. Noch nicht vier Wochen später, am 20. Dezember 1915 wurde Ebersold, mit dem Urlaub in der Tasche, durch eine feindliche Kugel überrascht und auf dem deutschen Militärfriedhof in Marchelepot beigesetzt.

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