Kriegschronik von Oberndorf Teil X

Mitteilungen aus Briefen der Kämpfer II.

Von Oswald Linxweiler. Oswald Linxweiler hatte vor dem Krieg bei der Matrosenartillerie in Friedrichsort bei Kiel gedient, wurde als Bootskanonenführer während des Feldzugs zum Leutnant befördert, stand an der flandrischen Küste bei Lombardzydje, machte dann die Kämpfe an der Somme mit, wobei er am rechten Oberarm verwundet wurde. An Auszeichnungen erhielt er das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse und den bayerischen Militärverdienstorden IV. Klasse.
Hier sein Feldbrief aus Belgien:

3. November 1914

Endlich, endlich, nachdem ich drei Wochen lang vergeblich gewartet, hat sich jetzt wieder die „Alsenzer Zeitung“ eingestellt. Sie erscheint zwar noch nicht regelmäßig – heute erhielt ich z.B. die Nummern vom 1. und 28. Oktober zusammen – aber was machts: Neues aus der Heimat bringt sie und man erfährt, wie es lieben Freunden geht, die auch hinausgezogen.
Fünf Wochen bald ist`s her, daß ich meine Feuertaufe erhielt. Es war vor M…. Ich hielt mit meiner Batterie auf der Straße, vor und hinter uns Truppen. Langsam schiebt sich der Zug vorwärts. Seitlich ganz in der Nähe sendet eine schwere Batterie ihre ehernen Grüße aus. Drüben aber ist es noch ziemlich stille. Nur dann und wann ein dumpfes Dröhnen aus der Ferne. Es geht weiter. Man munkelt, daß unsere Truppen schon in der Stadt sind. Das wäre was, nicht bei den ersten sein zu dürfen! Die Häuserreihe an der Straße hört auf; vor uns liegt der Kanal – und dahinter – Hurra! M… Schnell hinüber! Aber der Feind versucht, es uns schwer zu machen. Unaufhörlich schickt er seine Granaten herüber. Links und rechts der Brücken schlagen sie ein, hohe Wassersäulen hochtreibend. Darüber platzt Schrapnell auf Schrapnell, die Kugeln sausen pfeifend gegen die Häuser. Die erste Brücke ist gesprengt. Auf dem diesseitigen Pfeiler hält unser Divisionsstab, auf dem anderen schlägt krachend eine Granate ein. Wir sehens im Vorbeieilen – und haben unsere Kriegserfahrung gemacht: nicht jede Kugel trifft. Einzeln muß die Infanterie über die Brücken hinweg – wir mit unseren Geschützen nach. Wir sind drüben; es ist gut gegangen. Viele folgen nicht mehr, denn mörderischer wird das feindliche Feuer. Kaum eine Sekunde lang setzt es aus – und immer auf die Brücken. Sie schießen gut, die Belgier, wissen sie doch jede Entfernung hier genau. Krachend stürzt ein Brückengeländer in das Wasser.
Möglichst in Deckung fahren wir eine Häuserreihe entlang, an einer Kompanie Marine-Infanterie vorbei. Aus einer Gruppe heraus werde ich beim Namen gerufen. Es ist ein Alsenzer, der mich erkannt: Wendling. Ein kurzer Händedruck – es geht weiter; doch bald heist es: Halten! Die Stadt ist derart unter Feuer, daß keine Artillerie hinein kann. Ich erhalte Befehl, in Deckung zu gehen. Wir schlagen die Türen der nächsten Häuser ein und machen es uns darin gemütlich. Ja, gemütlich, denn die Schießerei stört uns schon garnicht mehr. Daran gewöhnt man sich furchtbar schnell. Wir freuen uns, wenn die Schrapnellkugeln auf dem Pflaster herumflitzen oder zischend ins Wasser sausen. Noch mehr Spaß machen die Stoßböden der Schrapnells, Eisenscheiben, die meistens ganz bleiben, und dann sekundenlang mit schnurrendem Geräusch auf der Straße „drillern“ wie die „pälzer Buwe“ sagen würden.
Neben uns hält ein Maschinengewehrzug, Er muß abwarten wie wir. Sein Führer, ein Oberleutnant, beobachtet eine Kirche auf der anderen Seite des Kanals und entdeckt, daß zwei Drähte auf deren Turm führen. Sollte der Feind da noch einen Posten haben? Gute Beobachtung hat er auf alle Fälle; denn sobald sich eine Gruppe auf der Straße blicken läßt, schickt er ihr ein paar Schrapnells herüber, ja auf einzelne, die die Brücke überspringen, setzt er seine Artilleriegeschosse. Sollte ihm alles von da droben gemeldet werden? Möglich ist es schon; denn von dem Turm aus muß sich der Kanal gut übersehen lassen. Na, dem Burschen wollen wir das Handwerk legen! Ich bitte den Oberleutnant, hinüber gehen zu dürfen. Gerne gestattet er mir es. Ich nehme mir einige meiner Leute, ein Maschinengewehrschütze läßt sich auch nicht zurückhalten, und im Laufschritt geht es hinüber über die Brücke. Hinter uns spritzen „unsere“ Schrapnellkugeln auf das Pflaster – zu spät, um uns schaden zu können. Die Kirchentür ist offen; ein Posten bleibt zurück, Pistole oder Gewehr im Anschlag stürzen wir die Turmtreppe hinauf. Ich öffne eine Tür – ein leerer Raum, d.h. was wir suchten, fanden wir nicht. Die Kerle waren rechtzeitig ausgerückt; zurückgelassen hatten sie alles: Mäntel und Mützen, Vorratstaschen und Proviant. Auf einem Tische standen halbgeleerte Tassen mit Kaffee, daneben lag noch das Brot – eine gestörte Mahlzeit. Wir durchsuchten die ganze Kirche bis zur Turmspitze – vergebens. Pfeifend sausen die Kugeln um den Turm oder schlagen prasselnd gegen die Böden. Die Telefonleitung wird zerstört – die Apparate waren schon abgehängt. Ich sammle meine Leute. Nun wieder zurück! Ich springe vor auf die Brücke; wie ich sie betrete, schlägt rechts, nur wenige Meter von mir, eine Granate ins Wasser. Ich kriege einen tüchtigen Spritzer ab – und bin zufrieden damit. Wäre sie auf festen Boden gefallen, so wären mir Granatsplitter und Steine um die Ohren gesaust, denen ich kaum entgangen wäre. Im gleichen Moment platzt links neben mir ein Schrapnell. Meine Leute stutzen. Ich bin drüben und winke ihnen. Einzeln überspringen sie die Brücke – und unversehrt kommen sie alle an. Nun mögen sie weiter bollern.
Als ich zu den Maschinengewehren kam, war die erste Frage: „Warum habt ihr denn geschossen?“ Als wir verneinen, wird uns allgemein versichert, daß bei der Kirche deutlich Gewehrfeuer zu hören war. Des Rätsels Lösung fiel nicht schwer. Die Burschen hatten, als sie sahen, daß man ihnen auf den Leib rückte – sie konnten vom Turm aus genau beobachten, was bei uns vorging – schleunigst Reißaus genommen, hatten sich in ein Haus neben der Kirche geflüchtet und von da aus den Turm beschossen. Die Kugeln, die wir pfeifen gehört und die wir für Schrapnellkugeln gehalten, hatten uns wohl die von uns Vertriebenen gesandt. Am nächsten Tage begegneten uns dieselben vielleicht als brave Bürger mit der rührenden Bitte: nit dodschießen in den Straßen von M…
Während unserer kleinen Streitfahrt, von der uns das Kriegsglück alle unversehrt zurückkehren ließ, hatte meine Batterie unter den Zurückgebliebenen den ersten Verwundeten bekommen. Einer meiner Geschützführer hatte mit dem Doppelglas den Kirchturm beobachtet und war dabei einige Schritte aus dem Hause getreten. Ein Sprengstück schlug ihm eine tiefe Wunde in die rechte Hand und einen Teil des Glases glatt weg, ohne ihn glücklicher Weise im Gesicht im geringsten zu verletzen.
Kaum waren wir angekommen, als von der Brücke, die wir übersprungen hatten, ein Hilferuf herüber drang. Ich sah, daß er von einem Verwundeten herkam und schickte meinen Sanitätsmaaten mit einigen Leuten und einer Tragbahre nach der Brücke; während ich Vorbereitungen für die Unterbringung traf, ruft es von neuem nach Hilfe. Einige meiner Matrosen springen zu der Stelle, ich folge nach – und sehe ein grausiges Bild. In einem Hause, gleich bei der Brücke – Blutbahnen zeigten mir den Weg – liegen stöhnend 5 brave Soldaten, darunter 3 meiner Jungen. Ein Motorradfahrer war es, der uns gerufen hatte. Eine Schrapnellkugel hatte ihn, als er über die Brücke fuhr, am linken Beine verletzt und freudig hatte er die begrüßt, die ihn von der gefährdeten Stelle wegbringen wollten. Da, gerade als sie ihn auf die Tragbahre legten, platzte ein Schrapnell über der Gruppe. Eine Kugel verletzte ihn zum 2. Male am linken Bein, ein Splitter zerschmetterte ihm das rechte. Zwei weitere Leute hatten leichtere Verletzungen davongetragen; der Sanitätsmaat war schwer verwundet. Er ließ sich nicht verbinden. „Mit mir ist es aus!“ Er hat recht behalten. Lange schon deckt ihn Feindeserde. Dem braven Maschinengewehrschützen, der noch vor wenigen Minuten bei der Untersuchung der Kirche immer tapfer vorausgegangen war, hatte eine Kugel die Lunge durchschlagen. Stöhnend rief er immer wieder aus: „Ich wollte doch noch mithelfen!“ Braver Mann! Du wirst es nicht mehr können! Ob er noch lebt? Ich weiß es nicht.
Ich kniee bei dem Motorradfahrer; ich halte eine kalte, blutige Hand, sehe in trübe, wehmütige Augen. Da leuchten sie auf; „Kamerad es ist fürs Vaterland!“ Wie schwer wiegen die paar Worte in solchen Augenblicken! Ich werde sie nie vergessen. Er nennt mir seinen Namen: Freiherr von Hünefeld. Welche Freude war es für mich, vor einigen Tagen im Hamburger Fremdenblatt von ihm zu lesen, daß es ihm gutgeht. Da erfuhr ich auch näheres über ihn. Er ist bekannter Dramaturg und war als freiwilliger Motorradfahrer in den Krieg gezogen. Er war einer schweren Batterie zugeteilt, die an jenem Tage vor M… in Stellung gegangen war. Da man nicht wußte, ob die Stadt noch zu beschießen, oder schon ganz vom Feinde geräumt sei, hatte er sich freiwillig gemeldet, trotz des mörderischen Feuers, in die Stadt zu fahren und hierüber Meldung zu bringen. Auf dem Rückwege hatte ihn die feindliche Kugel niedergeworfen. Einer meiner Leute brachte seine Meldung zur Batterie. Für die brave Fahrt hatte Hünefeld das Eiserne Kreuz erhalten. Wie gönne ich es ihm! Er hat es verdient!
Ein paar Stunden im Feuer! Was hatten sie uns nicht schon alles erleben lassen! Was sollte noch folgen bis zu dem Augenblick, da ein Auto an uns vorbeifuhr und ein Offizier daraus uns zurief: Weiße Flagge! Was bedeuteten doch die beiden Worte für uns? Ziel erreicht! Antwerpen, das Uneinnehmbare, zu unseren Füßen. Lawinenartig pflanzte sich das „Hurra“ fort durch die Schützengräben von Stellung zu Stellung.
Jetzt liegt alles hinter uns. Wir halten brav Wacht an feindlicher Küste. Sollte man uns noch länger da behalten und uns unser „liebster“ Feind von drüben nicht stören, werde ich bald einmal mehr erzählen – als kleinen Dank für die ersehnten Nachrichten aus der lieben Heimat.
Wenn „sie“ aber kommen, – wie wollen wir sie begrüßen! Es werden andere Grüße sein, wie die, die ich diesen Zeilen mitgebe.

Ihr Oswald Linxweiler

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Eine Bootskanone beim Abfeuern