Aus den Briefen der Kämpfer IV.
Die Kriegserlebnisse von Heinrich Wagner von Cölln wurden von ihm folgendermaßen geschildert:
Meine liebe Pfalz verließ ich mit meinem letzten Quartier in Niederhochstadt. Von Zeiskam, wo wir früh 8 Uhr eingeladen wurden, gings mit dem Zuge nach Straßburg. Daselbst Aufenthalt. Ich hatte Bahnhofswache. Nach einer Stunde wurde ich abgelöst. Jetzt erfuhr ich, daß unser Bestimmungsort noch unbestimmt sei. Endlich hieß es: „Einsteigen“. Jubel und Freude herrschte überall. Wie beruhigend muß es für die Bewohner gewesen sein, als sie die Begeisterung sahen! Und dann der Humor, den man das „Brot“ im Felde nennen kann und der sich besonders in manch treffender Aufschrift an den Eisenbahnwagen zeigte. Er läßt den deutschen Soldaten leicht die Schmerzen vergessen, die ihnen der Abschied von ihren Lieben gebracht hat. Der „D-Zug nach Paris“ ist schon im Gange und weiter fährt er ins Dunkel. Schirmeck ist erreicht und allmählich wird uns das Ziel gewisser. Langsam schleppt sich unser Dampfross mit seinen 50 Wagen vorwärts. Endlich abends 11 Uhr aussteigen und strenge Ruhe. Bourg – Brucke! Schon hören wir ganz deutlich den Geschützdonner. Jetzt rasche Einteilung und die Quartiere aufgesucht. 15 Minuten Marsch und wir sind an Häusertrümmern angelangt. Französische Artillerie hat hereingeschossen. Da heißt es jetzt sich ein Plätzchen suchen, wo man ein wenig ausruhen kann. Um 3 Uhr gehts schon wieder weiter zur Front. Endlich finden wir – 5 Kameraden und ich – ein Plätzchen im Gemeindehaus, das noch ziemlich erhalten war. Rasch machten wir uns ein Lager auf dem Fußboden zurecht und kochten draußen eine Suppe, denn seit 2 Tagen hatten wir nichts Warmes mehr bekommen. Ach, gar zu bald sind uns die 2 Stunden, die uns noch zum Schlafen übrigblieben, verflossen. Schon wird alarmiert; selbstverständlich geschieht das Antreten in größter Ruhe und ohne Licht, damit nicht etwa ein französischer Flieger von unserem Anmarsch erfährt. Um 9 Uhr stand die Kompanie marschbereit und weiter ging es auf Saales. Auf dem Wege dahin stießen wir zu unseren anderen Kompanien und nun ist auch das 1. Batallion beisammen. „Laden und sichern“! Ein für uns in dieser Lage fremdes Kommando, das wir aber schon lange ersehnten, denn wir brannten vor Begier nach dem Feinde. Es ist ein eigentümliches Gefühl, wenn man zum ersten Mal die 5 Patronen einschiebt, die dazu bestimmt sind, Menschen zu töten. Nach einer Stunde erreichten wir die noch deutsche Stadt Saales. Aber von ihr sieht man nur noch einen Haufen Trümmer. Außer der Kirche ist kein Haus unbeschädigt. Kaffees, Schulhäuser, alles durch die französische schwere Artillerie zerschossen, als sie sich, von den Deutschen verfolgt, zurückziehen mußte. Keine Fensterscheibe ist mehr zu sehen, durch den ungeheueren Luftdruck der Granaten sind sie eingedrückt worden. Noch rauchen die Trümmer! Wenige Tage zuvor waren noch 2 Feldlazarette da, welch ein Glück, daß sie verlegt worden waren! Wie wäre es unseren armen Verwundeten ergangen, denn der Franzose fragt nicht nach dem Roten Kreuz. Nach langem, anstrengendem Marsch über Berg und Tal, durch Wald und herrliche Wiesen, vorbei an Biwackstellen und Lagerplätzen, an Gräbern unserer Kameraden, erreichen wir ein kleines Gehöft. Beim Anblick des ersten Grabes durchschauerts einen. Hier ruht das junge Blut in fremder Erde, ein einfaches Kreuz aus Ästen rasch von einem Kameraden hergestellt und mit dem Helm geziert, bezeichnet die Ruhestätte. Einfach aber weihevoll! Die letzte Ehre! Die Grabhügel mehren sich, die Gegend wird wüster: Granatlöcher, Infanteriestellungen, gesprengte Überführungen. Hier wütete ein heißer Kampf. Endlich Häuser: La petit Fonc, wir sind bei unserem 4. bayerischen Reserveinfanterieregiment. Es ist früh 7 Uhr. Rasch werden wir eingeteilt. Das Regiment hatte schwere Verluste, da die Stellung der Franzosen in der gebiergigen Gegend äußerst schwer zu nehmen war. Jeder Schritt mußte fast mit dem Bajonett erkämpft werden, außerdem hielten die lieben Nachbarn jedes Jahr hier ihr Manöver ab, ganz nah an unserer „Haustüre“. Die Entfernungen kannten sie deshalb ganz genau, ein ungeheuerer Vorteil für die Artillerie, die sich dadurch das Einschießen ersparte. Unsere Kompanie, die zweite, ist in einer Scheune untergebracht. Es ist 8 Uhr früh und schon erhalten wir unsere Feuertaufe, denn die ersten französischen „Ansichtskarten“ kommen geflogen in Gestalt von Granaten und Schrapnells. Ein fürchterliches Zischen und Sausen. Die alten Kameraden rührten sich schon gar nicht mehr, stehen gar nicht auf bei den Schrapnells und merken erst auf, wenn Granaten kommen. Uns jungen Vaterlandsverteidigern ist das ein wenig komisch und wir laufen in unsere Unterstände, die am Abhange des Berges gebaut sind, der dem feindlichen Feuer entgegen liegt. Die Franzosen haben die Liebenswürdigkeit, ihre Grüße zu bestimmter Stunde des Tages uns zu schicken, das ist morgens von 7 – 8, mittags um 1 Uhr nach ihrer Mahlzeit (da scheinen sie sich am stärksten zu fühlen, denn da feuern sie nur in Salven) und dann abends bei der Dämmerung.
Am 20. August gingen wir auch nicht mehr aus unserer Scheune heraus, sondern waren frohen Mutes beim Spiel der Mundharmoniken. Gar viele in der Heimat können es sich nicht vorstellen, daß man auch lustig sein kann, wenn man dem Tode so nahe ist, aber warum nicht? Mit seinem Gott hat sich jeder auseinandergesetzt und erwartet nun ruhig sein Schicksal, das ihm bestimmt ist. So vergeht ein Tag auf den anderen. Unsere Front ist auf dem Berge, wo wir eine Verteidigungsstellung einnehmen und halten müssen. Sie ist in ungefähr einer halben Stunde erreichbar. La petit Fonc ist ein armes, kleines Dorf mit schöner katholischer Kirche. Es ist schade um das Kirchlein, das ein bisschen hoch liegt. Granaten und Schrapnells haben ihm das Dach eingerissen. Alle Heiligenbilder liegen zerfetzt am Boden und die Kanzel ist mitten in die Kirche geschleudert. Es sieht dort drinnen fürchterlich aus, dem Pfarrhaus erging es ebenso.
Nach einigen Tagen kam der Befehl: „Marschfertig machen“! Nachts um 2 Uhr geht es ab. Wohin? unbestimmt. Über Saales, Bourg – Brucke gehts zurück. Hier morgens 9 Uhr Essen fassen (wie stehts das einzige Essen am Tage), dann hofften wir, weil wir an der Bahn waren, eingeladen zu werden. Aber umsonst. „Tournister auf – Gewehr in die Hand“. Das übliche Kommando und weiter gehts über Steige, St. Martin (von uns vollständig niedergeschossen, als wir die Franzosen zurückschlugen), weiter nach Schorrweiler, wo es endlich, endlich Halt gab. Es regnete auf dem Marsche und müde waren wir schon in Saales, denn 55 Pfund wollen getragen sein. Nun kommen noch die müden Füße hinzu. Viele haben ja schlapp machen müssen, aber im großen Ganzen wurde ausgehalten auf dem Marsche von abends 11 bis am nächsten Tag abends 7 Uhr (20 Stunden). Wir hatten nur einmal Pause in Bourg – Brucke. Hier muß uns unsere Feldpost verloren haben. In Schorrweiler gab es Rasttag bis nachts 2 Uhr, dann Abmarsch auf Schlettstadt, wo wir endlich eingeladen werden. Jetzt im Zuge! Wohin weiß wieder niemand, selbst die Hauptleute nicht.
Wir fahren zurück über Straßburg und Metz, von da nach Mars la Tour. Aussteigen! Es ist Nacht. Wir müssen nach Chambley marschieren, eine halbe Stunde weit, dann Essen fassen und in die Quartiere. Ein Tag Rast. Ruhe tut uns sehr not. Wir lassen uns in einer Scheune häuslich nieder und schlafen sofort. Chambley ist ein kleines Städtchen, ganz nett, aber schmutzig, schmutzig wie das ganze Frankreich. Auf Grund eines Batallionsbefehls müssen wir überall große Reinigung vornehmen und, was sehr notwendig ist, Latrinen bauen (Aborte kennen die Franzosen garnicht, nirgends einer zu sehen). Die Rastzeit ist um, Batallion steht reisefertig. Wir maschieren weiter über Beney, La marche (2 Tage Aufenthalt), Boncourt, Banieres nach Aprimont. Überall Militär und wieder Militär, meistens Preußen. Ab Aprimont beginnt für mich das eigentliche Kriegsleben, oder besser gesagt: Zigeunerleben. Kanonendonner jetzt schon sehr gut vernehmbar. Wir marschieren weiter, endlich im Bereich der Kugeln. Wieder Zischen und Sausen, wir liegen in Reserve. Granaten und Schrapnells besuchen uns auch hier, doch die meisten gelten nicht uns, sondern unserer Artillerie, die hinter uns steht.
Es war Nacht, als wir zum 1. Mal in Reserve lagen, eine Nacht, in der von beiden Seiten ein Sturmangriff geplant war. Unsere Artillerie arbeitete schon fieberhaft; es ist 3 Uhr früh, Ziele hatte sie schon eingeschossen, der französische Angriff erfolgte erst um 6 Uhr, der unsrige war auf viertel nach 6 festgesetzt. Es war ein Glück für uns, daß die Gegner zuerst mit ihrem Sturm begannen, sonst hätte vielleicht uns das Schicksal treffen können, das die Feinde traf. Ihr sehr starker Angriff wurde mit schauerlichen Verlusten für sie zurückgeschlagen. Der Tod hatte furchtbare Ernte gehalten. Unser Angriff wurde erst um 9 Uhr 15 ausgeführt. Davon weiter unten. Wir liegen noch nach dem Abweisen des französischen Angriffs bis 8 Uhr in Reserve, beständig von Granaten und Schrapnells bedroht. Etwas schauerliches, wenn man so untätig daliegen muß, wehrlos jedem Geschoß preisgegeben. Wie froh waren wir, als endlich die Nacht vorüber war. Ein Nachtgefecht ist doppelt schrecklich. Manchmal gleicht der Kampfplatz einem Vergnügungspark, in dem eine bengalische Nacht gefeiert und das Feuerwerk das Auge ergötzt, wenn nicht das furchtbare Getöße und Dröhnen die Wirklichkeit zu grußlich vor Augen stellen würde. Endlich heißt es für die Unseren: „Zurück“! Dieses Mal geht man gerne, denn nützen können wir nichts und werden beständig bombardiert. Es geht 4 – 5 km zurück. Seitwärts in einem Buschwald wird gelagert. Nicht lange, dann gehts wieder vor in Reserve. Nur wenige Stunden, dann „zurück“! So geht es einige Tage hin und her, nur um den Gegner zu täuschen. Während dieser Tage haben wir nachts unter Büschen geschlafen oder in Strauchhütten, Zelte durften wir nicht aufschlagen, da wir jederzeit marschbereit sein mußten und uns vor den französischen Fliegern in Acht zu nehmen hatten. Auch hier, weit hinter der 1. Linie war man nicht sicher vor feindlicher Artillerie. Oft wurden uns Steinmassen zugeschleudert, von den Granaten herrührend, die hinter uns einschlagen. Tote gabs keine, aber Beulen für die Lebenden. Auch ich habe so kleine Andenken behalten, keine von Nachteil, da gibts nichts besseres, als auf den Bauch legen und Tournister auf den Rücken, dann triffts nur weniger empfindliche Teile, bei manchem vielleicht denjenigen, der es von jugend auf schon ziemlich gewohnt war. Trotz des Ungewohnten ruht man auf dem steinigen Boden ganz gut, man lacht und scherzt und vergißt, daß Krieg ist. Abends, wenn Ruhe in den Kolonnen ist, wirds feierlich, dann hält jeder Gottesdienst. Ein Flüstern geht durch die Reihen – Gebet. Es betet jeder, auch der schon über Gott gespottet, ihm gänzlich fremd wurde. Rohe Gesellen, sie kommen zur Einkehr. Es ist ergreifend, wenn man die rauhen Hände gefaltet sieht, die den Tod senden in die Reihen des Gegners, die gierig nach dem Gegner verlangen, um ihn im Kampf zu erwürgen. Dort liegt der Vater einer großen Familie. Sein struppiger Bart macht sein Gesicht hart, aber aus den Augen leuchtet die Liebe zu den Seinen daheim, um die es, gleich wie sie daheim sicher auch an ihn im Gebet gedacht haben. Die Kampfeswut, die Erbitterung ist in dieser Stunde von ihm gewichen. Hier liegt ein junger Kämpfer. Wo ist er anders mit seinen Gedanken als daheim! Bei Vater oder Mutter oder Geschwistern? Alles ist in tiefen Frieden getaucht, weit im Felde des Todes. Das ist auch eine der Freuden im Felde. Möge doch der Krieg auch davon Früchte bringen. Das tiefreligiöse Gefühl bei uns Deutschen muß bei vielen wieder geweckt werden, dann aber flutet ein Meer von Gebeten empor und das wird uns siegen helfen.
Der 10. Oktober bricht an, blutig färbt Mutter Sonne den klaren Himmel und schickt die Nacht ins Tal. Blutig! Ein Vorzeichen für den Tag. Was wird er uns bringen? „Wir gehen vorwärts. Wir schieben ein“, so heißt es. Schon überschreiten wir unsere Artilleriestellungen. Es ist 4 Uhr früh. Alles noch dunkel. Durch engen Buschwald, Dornen und Draht. Endlich in den Laufgräben, die zu den Schützengräben führen. Jetzt langsam vorwärts und ruhig. Das geringste Geräusch und wir haben Salven von französischer Infanterie und Artillerie. Wir schreiten vorwärts. Greuel des Krieges begegnen uns. Tote Pferde, tote liebe Kameraden, verwundete Brüder – schrecklich der Anblick, schrecklich das Stöhnen, am schrecklichsten der Geruch. Endlich Kommando „Halt“! Alles hinlegen! Kugel pfeifen, Granaten und Schrapnells schlagen bei uns ein. Unsere anderen Reihen heuer lebhafter. Es tagt! Die Sonne drückt den Nebel in die Täler; es regnet, aber nicht lange. Es ist 6 Uhr, der Sturm beginnt. Feindliche Infanterie will schon herannahen, lebhaftes Schützenfeuer. Verwundete kommen schon, teilweise jämmerlich zugerichtet. Ich bin Verbindungsmann zwischen 1. Feuerlinie und Kompanie, direkt am Wagen, den die Sanitäter benutzen. Was tragen die alles zurück. Es schauert mich. Feindliches Feuer wird immer heftiger und jetzt setzen auch Maschinengewehre ein. Aber unsere Leute haben die Stellung erreicht, die die Franzosen geräumt. Jetzt Geknatter unserer Gewehre, Maschinengewehrfeuer, Artillerie spricht mit. Unser Vorstoß ist geglückt. Hurra! Unser Hauptmann kommt zurück, aber leider mit schlimmer Nachricht – Herr Major gefallen! Alles nimmt im liegen Helm ab. Schade! Unser Herr Hauptmann muß das Batallion führen. Die 2. Kompanie ist dadurch ohne Offiziere. Alles muß einschieben. 3. Kompanie weg. Jetzt kommt die Reihe an uns. Aber wir dürfen leider nicht gleich vor. Wir müssen an den rechten Flügel, eine viertel Stunde durch den Wald. Unser Hauptmann geht mit uns. Endlich bei der 7. Brigade. Jetzt wird erst bekannt, was wir zu tun haben. Stürmen, und zwar den Wald bei Aprimont. Höhe 362 von den Franzosen säubern. Gestern sind hier zwei Angriffe, für uns verlustreich, zurückgeschlagen worden und heute sollen wir die Stellung unbedingt nehmen. Um 9 Uhr 15 gehts los. Bajonette aufpflanzen. Vorläufig hinauf in die Ansturmschützengräben. Wir sind da. Unsere 1. Linie kommt zurück. Warum? Unsere Artillerie soll zuerst säubern. Schießt nun zwei Stunden lang nur Salven. Beobachtungsposten telefoniert: “ Schüsse sitzen alle gut“! 3. Kompanie fertig machen. Wieder ist strengste Ruhe. Gebet! Verschiedener Inhalt. Wie wirds gehen, denkt sich wohl mancher. Wie viele bleiben droben im Wald! Mancher von uns hat wohl noch nie in seinem Leben ein innigers Gebet zum Himmel gesandt, wohl auch nie ein inbrünstigeres Vaterunser gebetet, als in dieser Stunde, wo jeder auf sein baldiges Ende gefasst sein mußte und manchen erwischte der Tod in den nächsten Minuten.
9 Uhr 15 Kommando: „Zum Sturm“! Langsam bewegt sich die Kette vorwärts. Schwarz wie der Tod, der uns entgegenblickt, sind auch wir. Graue Mäntel haben wir keine bekommen, nur schwarze. Immer noch gehts vorwärts durch Gestrüpp und niederes Buschwerk. Der Nebel hat sich vom Tälchen heraufgezogen und es nieselt schon. Ahnungslos gehen wir in einer Waldlücke und erreichen jetzt den Kamm des Hügels, um drüben hinabzusteigen, gar nicht daran denkend, daß uns etwas geschehen könnte. Doch jetzt trifft uns gleich das furchtbar Entsetzliche, die Salven unserer Gegner! Und die Wirkung ist noch furchtbarer, als man mit Worten wiedergeben kann. Ich bin in erster Linie. Links und rechts sind sie gefallen, die lieben Kameraden. Tot – tot! Ein Vorwärts jetzt unmöglich. Wir nehmen Stellung. Wer nicht liegen kann, kniet oder steht und schießt, was nur aus den Läufen geht. Wohin? Keiner sieht ein Ziel. Ein furchtbares Geknatter. Alle Gedanken schweigen, nur der eine frist sich fest – den Gegner zu überwinden. Der Mensch ist jetzt Tier. Keiner glaubt, daß er getroffen wird und viele müssen dran glauben. Unsere Reihen lichten sich, die Verwundeten schleppen sich zurück. Doch für das Ganze gibt es kein zurück. Trotz des starken feindlichen Feuers gehts nur vorwärts. Wir sind im 1. französischen Schützengraben, wie schauts da aus. Obwohl wir kein Ziel sahen, war die Wirkung unseres Feuers entsetzlich. Die Toten lagen aufeinander, die Verwundeten stöhnten und schrieen nach Hilfe; vielen wurde sie gebracht, vielen durch das Bajonett. Es ist entsetzlich wie der Mensch im Kampfe ist. Doch es ist notwendig. Den Schuften darf man keine Gnade geben, alle soll man niedermetzeln, denn tut mans nicht, dann raffen sie sich wieder auf und schießen, trotzdem sie als Verwundete galten, von hinten auf uns. Hier wars, wo wir wieder in Stellung lagen, um den ca. 90 m entfernten feindlichen Schützengraben vor dem Stürmen noch einmal unter Feuer zu nehmen. Jetzt hatten wir ein sicheres Ziel. Da plötzlich will mein linker Arm nicht mehr. Ich kann mein Gewehr nicht zum Schießen hoch bringen, glaubte ich hänge mit dem Ärmel an etwas, bis ich Blut an ihm sah. Dann schaute ich erst nach und sah, daß ich getroffen war. Jetzt fühlte ich auch Schmerzen. Ich mußte zurück. Entsetzlich, wenn man vorwärts kommen könnte. Doch es ist nicht zu ändern. Ohne Besinnen muß ich wieder den Weg hinauf, den wir gekommen. Mitten im Kugelregen. Rechts und links pfeifen sie vorbei, meinen Mantel durchlöchernd. Doch ich mußte hinauf, hier konnte ich mir unmöglich einen Notverband anlegen. Endlich ist die Höhe erreicht und ein Schützenloch und darin ein Kamerad. Rasch den Mantel herunter, den Ärmel noch und den Arm verbinden. Blutet schrecklich, Verband fertig, was ein machen! Die Kugeln pfeifen immer noch furchtbar und schlagen in die aufgeworfenen Erdhügel vor uns ein. Vorläufig gibt es nur ein Ausharren. Endlich wird das Feuer schwächer. Ich ergreife noch das Lederzeug mit Seitengamasche und schleppe mich, mein Gewehr im Arm, langsam durch den Wald zurück auf den 100 m entfernten Notverbandsplatz. Jetzt merke ich erst, daß ich droben in dem Schützenloch, wo ich verbunden wurde, meinen Tournister liegen ließ. Doch ich kann nicht mehr zurück, das Feuer wird wieder heftiger. Ich bin unten. Da liegt ein Rothöschen, aber der Hass ist geschwunden, ich könnte ihm nichts mehr antun. 10 Minuten früher wäre es ihm schlecht ergangen. Ich gebe meine Patronen und das Ladezeug ab und behalte nur noch mein Gewehr und zwei Streifen Patronen für den Notfall. Nun geht es zurück zum Feldlazarett. Ein Franzose könnte einem doch in den Weg laufen, denn im Wald ist alles möglich, da muß man den Beruf des Pfadfinders lernen. Auf dem Weg zum Feldlazarett treffe ich bekannte Verwundete. Bald ist das Lazarett erreicht. Die Verbände werden nachgesehen, dann trollen wir weiter auf der belebten Straße, woher wir vor einigen Tagen gekommen waren. Nach 2 Stunden erreichen wir das Lazarett der Division. Dort werden wir verbunden und da es Abend ist, auf dem „Speicher“ untergebracht. Es gibt noch Tee und Kommißbrot. Hier wird alles gesammelt, um an anderen Tagen in Trupps entlassen zu werden. Die Nacht war wenig angenehm. Erstens schmerzte die Wunde sehr und zweitens das Stöhnen der Kameraden. Endlich ist es 10 Uhr früh (11. Oktober 14). Die Marschfähigen gruppieren sich und wieder gehts nach Chambley. Die Straße ist voll marschierender Abteilungen und fahrende Kolonnen bewegen sich gleich einer Schlange durch die öden Felder von dem nicht fruchtbaren Frankreich. Es ist schrecklich, wie man vom Kriege spricht. Frankreich werde nach dem Krieg so verheert sein, daß die traurigsten Verhältnisse eintreten. Aber ganz sachte! Sie sind an ihrem Elend selber schuld. Abends 7 Uhr erreichen wir Chambley. Hier werden wir eingeladen, um irgendwohin gebracht zu werden. In Metz hatten wir Aufenthalt zur Beköstigung, dann gings nach Zabern, das wir morgens 5 Uhr erreichten. Die Leichtverwundeten werden in die verschiedenen Lazarette verteilt, ich komme ins Missionshaus. Hier werden wir liebevoll aufgenommen. Kaffee gabs und, was uns fast fremd war, ein gutes Bett.
Es vergehen 2 Tage, da stellt sich heraus, daß ich operiert werden muß. Eine Kugel hat sich im Unterarm zwischen zwei Knochenfestgesetzt und wird entfernt. Da ich chloroformiert war, hatte ich keine Schmerzen. Ein hübsches Andenken aus Frankreich. Ich hatte einen Querschläger abbekommen. Die Wunde sieht schauerlich aus und ich kann froh sein, daß die Kugel nicht mehr Unheil anrichtete. Es wurde kein Knochen verletzt und ich kann die Finger bewegen, wenn auch der Arm noch schmerzt. Die Heilung geht schön vonstatten. Mit dem Eiter, der ausfließt, sind bis jetzt 6 Tuchfetzen herausgekommen. Ich werde zwar noch recht lange mit der Verwundung zu tun haben, aber gut wird es sicher wieder.
Diese Hoffnung Wagners hat sich erfüllt. Nachdem er in Zabern als geheilt entlassen worden war, kam er anfangs 1915 nach Rheinsheim zur Erholung ins Lazarett. Vom Truppenübungsplatz Munsterlager, wohin er von Niederhochstadt aus zu einem Offizierskurs abgestellt worden war, schrieb er zweimal, nämlich am 2. und 19. Mai 1915. Am 19. Juni teilte er mit, daß er in zwei Stunden wieder nach Frankreich gehe (dazwischen war er zum Vizefeldwebel befördert worden). Dort wurde er zum zweiten Male leicht verwundet und kam ins Garnisonslazarett in Augsburg, Juli 1915 meldete sich aber bald wieder zur Truppe und kam wieder an die frühere Stelle in den Vogesen. Im Dezember 1915 war er auf Urlaub zu Hause. Wie für den ersten Teil des Feldzugs, so hatte Wagner auch für den anderen eine Schilderung seiner Erlebnisse in Aussicht gestellt. Durch seinen Tod wurde diese offenbar verhindert. Aus seinen Briefen sei darum noch Folgendes nachgetragen. Von Zabern aus schrieb er:
Man kann sich eigentlich nicht wundern, daß es mit meiner Mutter so geht, war doch ihr Leiden schon alt und tief (Rückenmarks- und Gehirnleiden. Deswegen mußte sie in die Krankenanstalt Homburg gebracht werden, was dem jungen Mann großen Kummer machte). Trotzdem hatte ich immer noch Hoffnung, ihr später einmal ihren Lebensabend verschönern zu können; jetzt allerdings erlöscht auch das letzte Fünkchen, fühle ich doch, daß ich mich bald von meiner lieben Mutter trennen muß, wenigstens auf dieser Erde (Sie starb am 2. Dezember 1915). Leider habe ich mit meinem Wunsche, in ein pfälzisches Lazarett überwiesen zu werden, nicht durchdringen können. Ich bin vorgestern in ein Reservelazarett in Bamberg überwiesen worden und werde morgen hier abreisen. Ich werde zuerst in die Pfalz fahren, zunächst nach Homburg, um meine Mutter nochmals aufzusuchen und dann auch ins Alsenztal. Ich werde mir erlauben, auch Sie aufzusuchen. Mein Arm ist wunderbar geheilt. Die 10 cm große Wunde ist in 8 Tagen gänzlich zugeheilt bis auf eine dünne Kruste. Ich werde nun in Bamberg vielleicht nochmals operiert, um die Sehne, die unglücklicherweise mit der Hand verwachsen ist, zu lösen, vielleicht gehts auch ohne dies.
Von Bamberg wurde er sofort zu einer Ersatztruppe nach Niederhochstadt und von da ins Reservelazarett zu Rheinsheim überwiesen. Hier hat er Verwendung gefunden als Schreibkraft des Stabsarztes. Der Posten sei für die Dauer des Krieges ganz angenehm, meinte er, „doch ich werde wahrscheinlich nicht hier bleiben“.
Leider machen mir meine Verwandten Vorwürfe, warum ich mich jetzt wieder freiwillig ins Feld melden würde, da ich als einziges Kind eine unglückliche Mutter so allein lassen müßte. Ich will ihrem Wunsche nachkommen und mich nun gegen meinen früheren Willen nicht freiwillig melden, sondern mich meinem Schicksal überlassen. Muß ich wieder hinaus, dann wird ausgerückt mit der gleichen Begeisterung, mit dem gleichen Mut, wie das erste Mal! Komme was kommen mag, alles Gott befohlen.
14.2.15. Ich bin immer noch in Rheinsheim. Heute kam der Stabsarzt vom Urlaub zurück, hat aber meine Entlassung nicht beantragt, sondern will mich weiterhin (allerdings unbestimmt wie lange) hier behalten. Wie er sagte entließe er mich nur ungern. Unter diesen Umständen ist es möglich, daß ich auf längere Zeit hier bleibe. Arm ziemlich in Ordnung, so ganz richtig ist es immer noch nicht. Narbe noch zu weich und Arm noch zu schwach. Wird tüchtig massiert nach warmem Bad. Ich fühle, daß es besser wird. Von meiner Mutter kann ich erfreulicherweise Gutes berichten. Sie soll gut aussehen, sehr deutlich sprechen, das Stottern soll sie fast ganz verloren haben und auch der Gedankengang ihrer Rede soll sehr logisch sein. Sie hat sich beschwert, daß ich nicht mehr schreibe. Ich habe es bis jetzt nicht getan, da sie das Lesen verlernt hatte. Jetzt schreibe ich wieder eifrig und hoffe auf ein Gesunden. Bisher hatte ich die Hoffnung aufgegeben, doch das Schicksal liegt in Gottes Hand, er wirds wohl machen.
29.2.15. Heute wurde ich als felddienstfähig mit Urlaubsempfehlung entlassen. Ich fahre am 25.02. von hier nach Niederhochstadt zu meinem Ersatzbatallion und hoffe ins Alsenztal zu kommen. In 4 – 5 Wochen glaube ich wieder im Schützengraben zu sein. Von meiner Mutter kann ich Gutes berichten. Ihr Zustand hat sich wesentlich gebessert und ich glaube das Recht zu haben, wieder ein völliges Gesunden zu erhoffen. Nach dem ich weiß, daß meine liebe Mutter in so guten Händen ist, kann ich den Schicksalsschlag leichter ertragen.
11.3. Niederhochstadt. Geht im Ganzen noch gut. Dienst ziemlich stramm, doch an alles gewöhnt man sich, Wetter abscheulich.
27.3. Meiner Mutter geht es weiter besser, war am Donnerstag dort, besuchte sie aber nicht auf Wunsch meiner Tante. Nach meinem letzten Besuch soll sie sich so sehr aufgeregt haben.
31.3. Vorerst bleibe ich hier, um bald zum Offizierskurs auf dem Übungsplatz Lüneburger Heide abgestellt zu werden. (Daselbst hielt er sich im April und Mai auf und wurde zum Vizefeldwebel und Offiziersaspirant befördert). Am Sonntag geht es wieder nach Süddeutschland, ich denke über Pfingsten daheim zu sein.
19.6. In zwei Stunden geht es wieder nach dem „lieben“ Frankreich. Übermorgen werden wir schon im Schützengraben sein, komme zum alten Regiment.
22.6. Aus Frankreich (Beney). Hier ist es ganz gemütlich beim Artilleriefeuer, wohnlich eingerichtet, Baracken mit Strohsäcken, mit Anlagen, Gartenhäusschen aus Ästen, Bänken u.s.w. Vom Kriege kann man hier auch schönes sehen. Wie Villen sind die Baracken an den Berg gebaut und fast könnte man meinen, man sei zur Erholung hier.
15.9. Im Schützengraben. Die Rothosen sind hier nicht ganz anständig. Wir haben sehr lebhaftes Artillerie- und Minenfeuer und es geht manchmal recht heiß zu, doch mit Gottes Hilfe werde ich aus dem Hexentanz wieder heraus kommen. Eben liege ich in der bombensicheren Höhle und lasse die „Lieblinge“ feste schießen, die werden schon wieder aufhören. Wir bleiben wahrscheinlich noch 3 Tage und noch länger diesmal in den Vogesen.
12.10. Morgen früh geht es wieder auf 9 Tage in den Schützengraben. Hoffentlich geht es auch diesmal wieder gut. Ich bin jetzt in einer Umgebung, die einem wieder Mensch sein lässt. Möbliertes Zimmer mit 9 Betten, Tisch, Waschtisch, Schrank, Sessel, Ofen, Spiegel usw. Alle Möbel selbst angefertigt, aber von Kaufmöbeln fast nicht zu unterscheiden. Tapeten und Bilder tragen zur Wohnlichkeit bei. Für die schönen Herbsttage haben wir ein hübsches Gartenhäusschen auf luftiger Höhe und des Abends in tiefer Waldeinsamkeit. Im Frieden könnte man sich einen schöneren Aufenthalt nicht wünschen.
30.10. Im Allgemeinen ist es ruhig bei uns, doch manchmal gehts schon heiß zu und oft kann man es als ein Wunder betrachten, daß man lebend aus dem Hexenkessel heraus kommt. Aufpassen muß man zwar immer, aber das genügt nicht um mit heiler Haut heraus zu kommen, Gottes Schutz darf einen nie verlassen. Ich lege mein Schicksal ganz in seine Hände, er wirds wohl machen.
Der Wald, sonst findet man ja hier nichts, färbt und lichtet sich; letzteres ist ein großer Nachteil. Es fällt dadurch viel Deckung weg. Für feindliche Flieger gute Beobachtung. Da denke ich gerade an mein letztes Zusammentreffen mit Unteroffizier Limbacher (dessen Mutter eine geborene Linxweiler aus Mannweiler ist); er ist ganz in meiner Nähe (fiel später einen halben Tag nach Wagner). Einliegendes Bildchen zeigt einen Teil unseres Soldatenfriedhofs, wo so viele Kameraden unseres Regiments bestattet sind. Es ist sehenswert, wie würdevoll man sie hier zur Ruhe gebracht hat. Eine schönere Stätte hätte man ihnen auch auf dem heimatlichen Gottesacker nicht machen können. Von meiner Mutter habe ich in letzter Zeit keine Nachrichten. Die letzte Mitteilung war nicht so günstig. Doch auch in dieser Beziehung ist alles Gott befohlen.
Falkenberg bei Metz, 6.1.1916. Inzwischen hatte Wagner zur Beerdigung seiner am 2.12.15 verstorbenen Mutter Urlaub gehabt, kam aber zur Beerdigung zu spät. Unsere Division hat wieder einmal einen Umzug erleben dürfen. Als ich in Urlaub war, wußte ich nichts davon und fuhr wieder nach Frankreich hinein und marschierte dann von der letzten Bahnstation aus noch drei Stunden zu unserem früheren Waldlager. Erst dort habe ich erfahren, daß mein Regiment zurückgezogen worden sei. Wohin konnte mir niemand sagen. So füßelte ich halt wieder zurück nach Vigneulles und fuhr nach Metz. Dort erfuhr ich dann, daß ich nach Falkenberg muß, wo unser Batallion in Ortsunterkunft in Ruhe ist. Wir haben hier ganz nette Quartiere. Ich bin bei sehr netten Leuten einquartiert, obwohl man das nicht von allen Lothringern sagen kann. Dienst ist selbstverständlich, um die Manneszucht zu stärken und, wo sie fehlen sollte, wieder herzustellen. Wo wir hinkommen ist ganz ungewiß, auch der Mann. Wir müssen jeden Augenblick vorbereitet sein, obwohl es noch Wochen dauern kann. Nun mag kommen was will, wir werden auch in Zukunft unseren Mann stellen und unsere Pflicht erfüllen bis zum Äußersten.
30.1. Der Tod meiner lieben Tante in Bisterschied war für mich eine nicht minder schwere Heimsuchung als der meiner geliebten Mutter. Ich betrachtete sie schon immer als meine 2. Mutter, besonders nach dem traurigen Vorfall, durch den meine Mutter so leidend geworden ist. Auch diesen Schlag will ich in Gottvertrauen tragen und auf eine glückliche und sorgenfreie Zukunft hoffen. Die Gewissheit des Glaubens und die innere Empfindung, daß wir mit von uns körperlich geschiedenen Lieben in geistigem Verkehr stehen, lässt uns den Trennungsschmerz leichter ertragen und die Hoffnung im Glauben, daß wir uns einstens wiedersehen, macht uns stark. Daß Kamerad Ebersold auch sein Leben geopfert hat, schmerzt mich, schon seiner jungen Gattin wegen. Auch in diesem Fall sieht man, daß es ein Ausweichen vor der bestimmten Kugel nicht gibt. Der Stunde des Schicksals kann man nicht entgehen und deswegen braucht man auch keine übermäßige Vorsicht, die leicht in Feigheit auswächst. Am Besten auf Gott vertraut, gewiß in unserer gerechten Sache und dann seine Pflicht erfüllt. So habe ich es bis jetzt gehalten und werde von diesem Grundsatz nicht abgehen (er ist ihm treu geblieben bis zum Tod).
Wie lange wir noch hier sind, weiß man immer noch nicht. Wir sind jede Stunde marschbereit. Vielleicht rollt der Zug bald. Von den verschiedenen Frontabschnitten hört man von rühriger Tätigkeit. Und ich glaube sicher, daß im Westen mit den nächsten Wochen Großes in Fluß kommt. Möge der Schlag, der uns zweifelsohne große Verluste bringen wird, zur Entscheidung führen. Neuigkeiten weiß ich fast keine mehr. Vor einigen Tagen erhielt ich das „Eiserne“!
Vor Verdun, 16.3. Von unserem Abrücken aus Ruhestellung Falkenberg haben Sie sicher schon gehört. Am 23.2. sind wir wieder nach Frankreich und ich habe mein unnützes Bummeln nun wieder mit eifrigster und zeitgemäßer Arbeit vertauscht, was mich einesteils freut, einesteils! Denn Sie können sich denken, daß es in Falkenberg menschlicher zu leben war als hier. Nun will ich in wenigen Zeilen ein bisschen erzählen. Wegen der Anfrage betreffs Fortsetzung meines Berichts glaube ich, schon mitgeteilt zu haben, daß ihm demnächst noch mehr folgt. Nur jetzt ist es mir leider nicht möglich. Vielleicht kann ich täglich ein Stückchen schreiben. Ich werde es baldmöglichst tun. Mit Sonderzug fahren wir nach Westen in der gleichen Ungewißheit über das Wohin wie bei allen Transporten. Endlich hieß es in der Nacht:“Aussteigen“! Ich sah wieder einen Platz, den ich schon fast aus dem Gedächtnis zeichnen könnte. Aus militärischen Gründen nenne ich keine Orte! Nach siebenstündigem Marsche kamen wir in eine französische Ferme, in der die Etappe Vieh untergebracht hatte. Am anderen Tag ging es weiter, zunächst nach Süden. Ein Tag Ruhe. Am nächsten Tag auch weiteren Marsch wieder nach Norden. Schon pfeifen die Kugeln. Doch wir sind noch Reserve in 1. Linie. Verluste wenig! Angriff auch ohne unseren Einsatz geglückt. Kommen in der Nacht in das von Franzosen geräumte Dorf. Schon am frühesten Morgen: „Ohne Tritt Marsch“! in den so bekannten französischen Wald, mit seinem Urwaldcharakter. Wege, auch wenn es Knüppelwege sind, fast unpassierbar. Ob Gegner auch im Wald sind, ist unbekannt. Kaum nach einigen 100 Schritten kommt der Befehl: Vor auf Patrouille, weitere Befehle beim Regiment zu erfragen. Ich löste mich los von meiner Kompanie und ich war selbstständig. Schneidige Leute hatte ich mir ausgesucht und war gewillt, so einen kleinen Krieg für mich anzufangen, der große Radius, in dem ich mich bewegen durfte, war mir gerade recht. Der Urwald war mir weniger angenehm, aber es mußte gehen. Leider kann ich Ihnen heute all die Einzelheiten nicht mitteilen, folgen im Bericht. Heute nur soviel: ich kam nach 10 Stunden mit einer Menge Befehlen und Meldungen, die mir zum Teil von anderen Regimentern übertragen wurden, zum Regiment zurück, die natürlich wieder glaubten, ich sei abgeschossen oder abgefangen. Die Kompanie war nun am befohlenen Platz und für die Nacht Vorpostenkompanie. Auf Feldwache meldete ich mich freiwillig, da ich ja das Gelände kannte und für meine Kameraden war dies eine Erleichterung. Nach Einweisung ging ich, die Feldwache meinen Kameraden übergebend, zur Kompanie zurück. Nun hieß es für die Nacht ein Lager schaffen. Bitter kalt scheint es zu werden, nichts ist zu haben. Mantel, Decke und Zeltbahn kommt runter, ein paar Äste und Zweige als „Matratze“ auf den wässrigen Boden, damit man ein bisschen in der Luft liegt, Mantel angezogen, Zeltbahn um die Füße gewickelt, einen Baum als Deckung ausgewählt und „hingehaut“! Noch die Decke drüber, möglichst auch über den Kopf, und schon hat die Natur ihr Recht. Für heute nur soweit, ich hoffe bald mehr senden zu können. Zur Zeit bin ich wieder in einem solchen Sumpfloch, mit der Ausnahme, daß wenigstens einige Hütten da sind, aus Ästen und Lehm zusammengepappt. Dabei aber eine Mordsschießerei: Verluste verhältnismäßig gering. In der hießigen Gegend ist der Franzose 12 km zurückgeflutet, unzähliges Kriegsmaterial, Haubitzen uns überlassend. Leider habe ich wenig Zeit, muß heute besonders auf der Lauer sein. Ein andermal folgt das Versprochene.
Das Versprochene sollte nicht kommen. Am 25.3.1916 traf noch eine Karte von Wagner ein – die letzte. Kaum war diese in meinen Händen, da hatte ihn die Kugel schon getroffen. „Launisch ist das Schicksal, die Fügung und Führung Gottes oft unverständlich und zum Sorgenerfahren“, das waren seine letzten Worte, die er aus Anlaß des Todes von Karl Gödel schrieb. In fremder Erde ruht er aus von seinem kurzen und so schicksalsschweren Erdenleben. Gott gebe ihm die ewige Ruhe, er hat sie an seinen Eltern und an seinem Vaterland redlich verdient.